Matthias Boeckl / Case Studies / 2012 / Ritterverlag Klagenfurt

Elementare Alphabete - Über Eric Kressnig

 

Eric Kressnig verfolgt in seiner Arbeit einen konzeptuellen Ansatz, der oft mit Konkreter Kunst assoziiert wird. Dieser Vergleich mit ähnlichen künstlerischen Strategien zeigt nicht nur die Vielfalt einer „Fraktion“ der zeitgenössischen Kunstproduktion, sondern macht besonders auch die individuellen Schattierungen jener Fragestellungen deutlich, mit denen sich der Künstler befasst.  Beispielsweise zeigte eine Ausstellung mit dem sperrigen Titel „Realität und Abstraktion 2 – konkrete und reduktive Tendenzen ab 1980“, die im Sommer 2012 im Kärntner Privatmuseum Liaunig stattfand, Eric Kressnigs Arbeit in jenem Milieu, dem sie zu entstammen scheint und in dem ihre subtilen Qualitäten besonders gut zur Geltung kommen. Man sah Pioniere der klassischen Moderne, viele international bekannte Größen der Konkreten Kunst und eine beeindruckende Zahl an Zeitgenossen aus Österreich. Die „Pioniere“ waren durch Josef Albers, Sol LeWitt und Pierre Soulages vertreten und die „Stars“ der internationalen Szene wurden von Imi Knoebel, Tony Cragg und Heinz Mack repräsentiert. Unter den Österreichern fand man – sofern regionale Zuordnungen in der aktuellen Kunstproduktion überhaupt Sinn machen – unter vielen anderen großen Künstlern auch Hildegard Joos, Helga Philipp, Heinz Gappmayr, Richard Kriesche, Heimo Zobernig, Karl Prantl, Hans Kupelwieser, Jakob Gasteiger, Brigitte Kowanz, Peter Kogler und Eva Schlegel.

In der Ausstellung wurden zwei große Leinwandbilder Kressnigs gegenüber zwei Arbeiten von Karl Hikade und neben einem Objekt von Michael Kienzer gezeigt. Dieser Kontext ist gut geeignet, Kressnigs Arbeit zu positionieren und ihre inhaltlichen Stoßrichtungen mit verwandten Strategien zu vergleichen. Es ist keine Kunst für oberflächliche Betrachter. Man muss sich in eine akribische, mitunter trotzdem ironische Arbeitsmethode einfühlen, die dem Betrachter durchaus eine geschärfte Wahrnehmung abfordert. Dem schnellen, oberflächlichen Blick erschließt sich diese Kunst kaum. Kressnigs Formensprache ist durchgehend geometrisch. Das alleine sagt aber noch nicht viel aus, da ja – siehe oben – ein ganzer Kosmos konstruktiver Kunst existiert, der sehr verschiedenartige Fragestellungen thematisiert. Diese Sphäre der Kunstproduktion zeigt genau so viele verschiedene Stile und Techniken, ja sogar „Handschriften“ wie die andere, die expressive, malerische, „realistische“ Fraktion.

 

Elementare Strukturen, Irritationen

Der Unterschied zwischen den beiden „Ausdrucksfamilien“ liegt nicht in ihrem Begriff von Individualität und Authentizität, jenen Grundkategorien der Moderne. Sondern in der Art des künstlerischen Empfindens. Es geht darum, welche Wahrnehmungen und Ereignisse den Künstler stimulieren und in eine Schwingung versetzen, die sich dann in der Kunstproduktion Bahn bricht. Für viele Künstler sind das etwa sinnliche Oberflächen und Körper von Menschen, Tieren oder Pflanzen. Für andere ist es etwa die Welt der Konsumobjekte, die sie zur Herstellung künstlerischer Metaphern und Modelle der Trash-Kultur stimulieren. Und wieder andere Künstler sind von der unendlichen Kombinatorik elementarster Zeichen, Formen und Materialien fasziniert, von den Möglichkeiten, aus diesen Zivilisations-Partikeln eine eigenständige, nahezu autonome künstlerische Welt zu konstruieren. Nahezu, denn all diesen Arbeiten wohnt stets noch ein sogenannter „Realitätsbezug“ inne, da entweder die Provenienz der Formelemente oder der Kontext des Werks derartige Beziehungen zur Alltagswelt transportieren.

Kressnig ist natürlich dieser zuletzt beschriebenen Stimulanzien-Gruppe zuzuordnen. Bei ihm können es etwa bestimmte Materialeigenschaften sein, die seinen kreativen Assoziationsmotor in Gang setzen, oder auch räumliche Strukturen. Das klingt abstrakt, löst aber einen sehr konkreten Arbeitsprozess aus. Ein Beispiel: Für eine Installation im Museum moderner Kunst Kärnten wählte Kressnig den Grundriss des Hauses als Ausgangspunkt. Mit Bleistift und Lineal machte er sich ans Werk. Zur Verfügung stand eine weiße Wand des Museums, über die er einen feinen Linienraster legte. In regelmäßigen Abständen trug er dann in etwas dickeren Strichen abstrahierte Varianten des Museumsgrundrisses in den Raster ein. Allerdings wurde nicht die gesamte Wand mit diesen Chiffren einer Blockrandbebauung mit Innenhof bedeckt, sondern nur eine Fläche in der Gestalt einer U- oder G-Form. Diese Großfigur, die aus der Summe der Varianten der Kleinform besteht, spielt ihrerseits wieder auf die Grundrissfigur des Museums an. Aus einer vorhandenen, aber nicht als Kunst wahrgenommenen Struktur wird also ein Formsystem destilliert und variiert, das sowohl mit der Alltagserfahrung zu tun hat (Darstellung des Baus) als auch eine weitgehend autonome Struktur zeigt – eine subtile Verklammerung verschiedener Realitätsebenen und -Maßstäbe durch das Kunstwerk. Kressnig hat für diese durchgehende Interdependenz aller Kunst- und Realitätsebenen eine schöne Kurzbeschreibung gefunden: „Each completes the other and is completed by the other“.

Es wäre aber ein Irrtum, würde man annehmen, dass damit eine hermetische Ordnung geschaffen wird, aus der es kein Entrinnen gibt. Im Gegenteil: Kressnig liebt die feine Irritation, ja stellt sich mitunter sogar absichtlich die Frage: „Wie breche ich ein System“? Natürlich geht es dabei um nichts Destruktives, nicht um die Zerstörung eines einmal gefundenen Formgesetzes, das ja eine unbestreitbare Faszination ausübt. Sondern eben um eine subtile Irritation. Auch dafür gibt es Beispiele, etwa in einer Serie an Buntstiftzeichnungen, in denen einfache geometrische Formen den ersten Eindruck bestimmen. Es sind unregelmäßige Vierecke, Pfeilformen, Dreiecke und dergleichen. Sie sitzen in einem exakten Rahmen aus Bleistiftstrichen, den sie mit ihren Eckpunkten berühren. Auch ihr eigener Umriss ist mit präzisen Bleistiftlinien gezogen. Ihre Binnenfläche allerdings zeigt die erwähnten Irritationen. Sie ist als merkwürdig flirrende Textur aus parallelen, eng gesetzten Buntstiftlinien in verschiedenen Abständen und Farbtönen ausgeführt. Die Farbnuancen sind fein aufeinander abgestimmt – entweder es sind gelb-braun-Töne oder rot-blau-Klänge, die sich wie ein Teppich in einer enggewobenen Fadenstruktur elegant über das Blatt legen. Aber – darin besteht die Irritation – die farbigen Parallelstriche orientieren sich nicht an den Außenkanten der Drei- und Vierecke, sondern sind in einem minimalen Winkel leicht verschwenkt. So ergibt sich an der Innenseite der Umrisslinien eine gleichsam unklare Zone, in der die „Ordnung“ des Bildes ins Rutschen gerät und sich die Schraffuren der Kante zwar annähern, aber sich nie mit ihr verbinden können.

 

Was ist ein Bild, was ist Malerei?

Dieses Spiel mit Systemen, ihrer Ordnung und Irritation, mit Materialqualitäten und deren Umkehrung betreibt Kressnig in verschiedensten Techniken und Medien. Von der Zeichnung über die Druckgrafik und das Leinwandbild bis zu Objekten reicht das Medienportfolio des Künstlers. In der eingangs beschriebenen Ausstellung des Liaunig-Museums waren etwa zwei objekthafte Acrylbilder mit extrem tiefem Keilrahmen zu sehen. Statt der üblichen Stärke von wenigen Zentimetern sind Kressnigs Bilder 14 cm dick, was ihnen einen kastenartigen Charakter verleiht. Das ist der erste Schritt eines radikalen Anti-Illusionismus, der das Bild und die Malerei nicht als Abbild dieser oder einer anderen Welt interpretiert, sondern als ein autonomes Gebilde aus Material und Proportion, das seine eigenständige Gesetzmäßigkeit entwickelt. Die Elemente des so entstehenden Objekts werden säuberlich getrennt und vor dem Betrachter geordnet ausgebreitet. Der Bildträger ist das erste Element – eine nicht grundierte Naturleinwand, deren sinnliche Haptik durch die „Verdickung“ auf eine fast ironische Art gesteigert wird. Auf diesem Bildträger liegt das zweite Element, nämlich das gemalte Bild – eine dünne Folie aus Farbe. Damit man diesen Foliencharakter noch besser erkennen kann, ist die bemalte Fläche freigestellt – links, oben und rechts bleibt ein sehr schmaler Streifen zwischen bemalter Fläche und Bildaußenkante frei, die Leinwand bleibt hier sichtbar (in den sorglosen Publikationen dieser Bilder fehlt dieser Rahmen). Am unteren Rand ist der unbemalte Streifen breiter, hier misst er fast ein Fünftel der Bildhöhe.

Was jedoch ist ein Bild, was ist Malerei? Malerei ist Komposition aus Farben und Formen, die in bestimmte Proportionen zueinander gebracht werden. Um das zu verdeutlichen, nimmt man am besten die einfachsten und klarsten Grundformen – Rechtecke. Wie die Formen müssen auch die Farben nahe an den Nullpunkt herangeführt werden – Kressnig verwendet dafür eine sehr schmale Palette aus Grau- und Blaugrün-Tönen. Das dritte Element der Malerei ist die Proportion. Und auch in dieser Kategorie zeigt Kressnig die grundsätzlichsten Lösungen: Die Boden- oder Horizontlinie ist ident mit der Grenze zwischen bemalten und nicht bemalten Partien der Leinwand. Die darauf stehenden Rechteckformen bilden in einem der beiden Bilder durch horizontale Aneinanderreihung ein Quadrat, womit das Grundprinzip der statischen Form dargestellt ist. Im zweiten Bild jedoch ziehen sich die Mann an Mann nebeneinander stehenden Rechtecke quasi „dynamisch“ über die gesamte Bildbreite. Die Proportion dieses Feldes (~ 1,2) entspricht fast genau jener der Leinwand – gedreht um 90 Grad, womit angedeutet wird, dass es auch andersrum funktionieren würde. Tatsächlich hat Kressnig diese intelligente Bilderserie auch mit Horizontalstreifen weitergeführt. So kann man diese Leinwandbilder auch als Kommentar zu den Möglichkeiten von Bild und Malerei an sich lesen – man muss aber nicht. Man kann auch die eleganten Farbakkorde genießen, die exakte Konstruktion und den präzisen, ebenmäßig-dünnen Acrylfarbauftrag. Kressnigs Werke verfügen eben sowohl über eine intellektuelle als auch über eine sinnliche Ebene, sie sind beides – Aktion und Reflexion.

 

Kunst buchstabieren

Die Arbeit mit Grundkategorien künstlerischer Produktion beschäftigt Kressnig auf allen Ebenen und in mehreren Maßstäben. Im Rahmen des Rudolf-Hradil-Grafikstipendiums in Salzburg befasste er sich auch mit der Lithografie. Dabei entstanden einige experimentelle Serien, die – wie zu erwarten – die Grundstrukturen des Mediums thematisieren. Dazu gehört etwa auch das Format. In der Geschichte der Lithografie haben sich dazu einige Standards herausgebildet, etwa der „Basler Stab“ – ein Stein von 37 x 43 cm. Kressnig „buch-stab-iert“ die Strukturen des Mediums, indem er monochrome Flächen in Pastelltönen druckt und darauf den maximalen Kontrast schwarzer Schrift setzt: Das Wort „Stab“ erscheint dann mehrmals versetzt am Blatt. Oder es werden mehrere monochrome Flächen ohne weiteres Motiv versetzt übereinander gedruckt, was interessante Akkorde in Grau-Grün-Gelb-Klängen ergibt. Als Ortsbezug baute Kressnig wieder einen Grundriss ein – diesmal ist es die Salzburger Ursulinenkirche von Fischer von Erlach, deren markant dreieckiger Grundriss als abstrahiertes und durch mannigfache Reproduktion verdickt-verunklärtes Motiv alleine am Blatt steht. Für die Abschlussausstellung seines Studienaufenthalts druckte Kressnig Plakate, die konsequenterweise die grundlegendsten Irritationen thematisieren, derer das Medium – gedruckte Buchstaben – fähig ist. Beim Druck kann man sich verdrucken, sodass das Gedruckte etwa zweimal versetzt am Blatt erscheint – ein klassischer Fehldruck. Und bei der Schrift ist der fundamentalste Irrtum jener der verdrehten Stellung der Buchstaben. Kressnigs Plakate zeigen genau das – verdruckte und um 90 Grad verdrehte Schriftbilder; die lapidar den Inhalt kundtun und sonst nichts: „KRESSNIG IM TRAKLHAUS MON 5.DEZ 18.00“.

Klar, dass ein Künstler mit dieser Interessenlage sich intensiv mit dem Phänomen des Buchstabens beschäftigt. Dieser minimalisierte Bedeutungsträger der kleinsten Einheit ist nicht nur wegen seiner sprachlich-semantischen Funktion faszinierend. Er ist auch Formgebilde. Und die Kombination einer „gegebenen“ Form mit vielfältigsten Inhalten, zumal auf einer „molekularen“ Ebene, ist natürlich eine einzige Herausforderung für Kressnig. Seine Antwort auf dieses Phänomen ist die Schablone, denn die einzelnen Sprachmoleküle werden ja in der alltäglichen Verwendung ident reproduziert. Sie können auch – um sie weiter zu vereinfachen – ihrer unregelmäßigen, kurvigen Elemente entkleidet und auf rechteckige Formen reduziert werden. Genau das tut Kressnig, schafft so eine eigene, gewissermaßen paradoxe Schrifttype: Indem sie das „Individuelle“ der Schrift – Kurven, Serifen, Tropfen – eliminiert und durch die „neutrale“ Geometrie ersetzt, schafft sie eine Kunst-Schrift, die aber klar einem Künstler als Erfindung zugeordnet werden kann. Das Subjektive wird so zum Objektiven und umgekehrt. Derlei Umkehrungen faszinieren Kressnig und er setzt sie konsequenterweise auch auf der formalen Ebene fort, indem er mithilfe seiner Schrift-Schablonen Bilder auf Leinwand malt. Die Buchstaben werden horizontal entlang der Mittelachse des Bildes angeordnet – schon diese erste Kompositionsentscheidung ist bereits auf Umkehrungseffekte angelegt, da sie eine horizontale Spiegelungsmöglichkeit suggeriert. Dazu kommt dann noch, dass die obere Bildhälfte in Grau und die untere in Weiß gehalten ist – und beim zweiten Bild umgekehrt. Dieser homogene Hintergrund wiederum erfordert, dass die darauf stehende Schrift je nach dem Bereich, auf dem ihre Teile stehen, invertiert werden muss, also die gegenteilige Farbe des Grundes hat, da sie ja sonst in diesem verschwinden würde. Das Ergebnis ist semantisch verwirrend, denn die Schrift ist kaum lesbar, aber die Struktur, die sich so ergibt, ist rhythmisch und schön. Also erneut eine paradoxe Umkehrung – durch formale Klärung und Reduktion wird semantische Unklarheit erzeugt, die sich aber auf ästhetischer Ebene wieder als Klarheit und Schönheit darstellt. Eine klassische philosophische Trias zwischen dem Material, dem Sublimen und dem Schönen. Zusätzlich zu diesen offensichtlichen Aspekten besitzen diese unscheinbaren Bilder auch noch eine Menge weniger auffälliger Eigenschaften, die die Lebendigkeit der Bilder betonen. So sind die Farbflächen nicht ganz homogen, das Grau ist nicht nur Grau, sondern auch gelblich, ebenso das Weiß. Die Bildkanten sind betont, indem wieder ein schmaler Rahmenstreifen angelegt wird, der in der jeweiligen Komplementärfarbe des betreffenden Bereichs gehalten ist. Und die Leinwände sind auch an den Seitenkanten bemalt, und zwar als „Fortsetzung“ der Vorderseite in der Farbe des jeweiligen Rahmenbereichs.

 

Vom geschlossenen zum offenen System

Besonders anschaulich wird Kressnigs Methode in einer sehr unscheinbaren Zeichnungsserie, die bei einem Studienaufenthalt in Frankfurt entstand. Der Künstler bezeichnet sie als „offenes System aus 8 Blättern“. Man sieht wenig, nur eine parallellogrammartige Form aus schwarzen Linien. Zwei horizontale Parallellinien oben und unten, dazwischen neun Schräglinien, die aber nicht alle die Horizontalseiten berühren: Beispielsweise sind in einem Blatt der Serie die Horizontallinien zu kurz, um sich noch mit den äußersten schrägen Vertikallinien links und rechts treffen zu können. Diese simplen Formen wirken auf den Betrachter derart bedeutungsfrei, dass man auf der Suche nach visuellen Reizen förmlich gezwungen ist, die sinnlich-haptische Struktur der Arbeiten genauer zu betrachten. Und so entdeckt man den unregelmäßigen Auftrag der Striche, ihre weich verlaufenden Enden, manche Verdickungen, mitunter sogar kleine Aussetzer. Irgendwie wirkt es aber nicht wie mit einem weichen Bleistift und dem Lineal gezogen. In der Tat: Es ist eine „mediatisierte“ Zeichnung, da sie durch klassisches Kohle-Durchschlagpapier aufs Blatt gedrückt wurde. Dieses Durchdrücken ist wiederum kein zeichenrischer, sondern ein plastisch-skulpturaler Schöpfungsakt, weshalb Kressnig sagt: „Das ist mikroskopische Bildhauerei“.

Die minimale Abweichung macht das geschlossene zum offenen System. Das ist eines der Grundelemente von Kressnigs Arbeitsweise. Es ist auch ein Symbol für Freiheit und unendliche künstlerische Imagination. Je klarer und strenger das System ist, desto dramatischer wirkt die Abweichung von ihm. In der eingangs beschrieben Ausstellung in Kärnten 2012 wurde neben den beiden Bildern Kressnigs eine Arbeit von Michael Kienzer gezeigt. Eine Anzahl von Platten, wie sie die Industrie für den Innenausbau herstellt (Holzfaser, Pressspan, Glas etc.) liegt hier scheinbar beliebig übereinandergestapelt am Boden. An einer Seitenkante dieser rechteckigen Platten ist jeweils eine weitere Platte des gleichen Materials aufrecht stehend angeklebt, sodass sich eine Art skulpturales Raum-Eck aus ineinander gelegten Platten-Winkeln ergibt, das an der Wand lehnt. Das macht den Unterschied dieser Wandfigur zu einer Freiplastik aus, die frei im Raum stehen würde. Das leicht schräge Lehnen an der Wand ist aber auch ein technischer Widerspruch zur rechteckigen Verbindung der Platten. Denn wäre es tatsächlich ein rechter Winkel, würde das Objekt nicht an der Wand lehnen können und zur Freiplastik avancieren. Der Titel der Arbeit lautet daher auch „18 x 95 Grad“. Eben 95, nicht 90 Grad. Wandfigur, nicht Freiplastik. Auch Kressnig sucht derart Grenzgängerisches: Seine Leinwandbilder im gleichen Raum sind gleichzeitig Skulptur und Bild, ihre Komposition ist mal statisch, mal dynamisch. Ein künstlerisches System eben, das durch geringfügige Änderungen in Bewegung gerät und sich öffnet. Die Voraussetzung für die Entdeckung dieser Tatsachen ist Präzision, Konsequenz und Neugier. Klassische Künstler-Eigenschaften eben, die Kressnig in hohem Ausmaß besitzt.